Adria Daraban

Adria Daraban

Figuren des Fragmentarischen

Architekturspezifische Konzepte des Fragmentarischen in der Moderne

 

Die Anziehungskraft des Fragmentarischen als Topos der Kunst, Literatur und Philosophie scheint spätestens seit seiner theoretischen Fixierung in der Frühromantik ungebrochen zu sein. Reste, Risse, Lücken oder Brüche geben der Kunst einen neuen Ausdruck; verstummende Stimmen, abgebrochene Gesten, unvollendete Verse im fragmentarischen Schreiben, Dissonanzen, Verfremdungen und Verzerrungen verändern Klang und Ausdruck aller Formen der Darstellung. Das Fragment verkörpert die radikale Geste der Befreiung der Kunst von der Idee des ästhetisch Schönen, Harmonischen und Ganzen.

Vorliegende Arbeit zielt auf eine erweiterte Begriffsbestimmung des Fragmentarischen in der Architektur ab. Indem das Fragment einen Ereignischarakter entwickelt, verändert sich auch seine Wirkungssphäre. Der Fokus richtet sich zunehmend von einer bildlich kontemplativen Reflexion über das Verhältnis zwischen Fragment und Ganzem hin zu einer Erfahrung der Fragmentierung. Für den architektonischen Diskurs bedeutet diese Wende, dass sich die Kategorie des Fragmentarischen von einer Ausdrucksform hin zum Ausdruck einer offenen und instabilen (dynamischen) architektonischen Ordnung bewegt und dadurch eigene architekturspezifische Merkmale entwickelt.

Um die Untersuchung dieser Relation zu ermöglichen, wird für diese Arbeit die Theorie des frühromantischen Fragments im literarischen und philosophischen Diskurs als Ausgangspunkt gewählt. Um die Gehalte dieser Theorie mit Blick auf die Architektur zu analysieren und wirksam zu machen, wird die Idee der theoretischen Reduktion der Romantik als Modell genutzt. Dies schafft eine Brücke, um den Transfer zwischen dem Ro­man­tikdiskurs und anderen, „nicht diskursiven Aktualisierungsbereichen des ‚Romantischen‘“[1] zu ermöglichen. Auf diesem Weg soll die Reduktion und Synthetisierung der Hauptthesen zum frühromantischen Fragmentbegriff nach Schlegel gelingen, um sodann diese Thesen mithilfe des Figurbegriffs in das Gebiet der Architektur zu transferieren und zu untersuchen. Die Zusammenhänge lassen sich wie folgt skizzieren: Während das Fragment charakteristische Phänomene des romantischen Gedankenguts transportiert, beschreibt die Figur die Struktur möglicher Konstellationen von Fragmenten. Mit der Figur des Fragmentarischen sprechen wir also von einer (Kon-)Figuration oder Konstellation von Fragmenten. Die figurale Beschreibung von Fragmentkonstellationen soll dabei nicht nur eine systemische und normative Darstellung sein, sondern auch eine Versinnbildlichung des Begriffs leisten.

Mit dem Ziel, eine architekturspezifische Begriffsbestimmung des Phänomens Fragment zu skizzieren, werden Figuren des Fragmentarischen mittels kreativer architektonischer Produktionen – Bauwerke, Entwürfe, Skizzen und andere Arten von Notation – untersucht und in Relation gesetzt. An Arbeiten und theoretischen Formulierungen der Architekten Hans Scharoun (1893–1972), Hans Hollein (1934–2014) und Peter Eisenman (*1932) werden die Figuren der Lücke, der Linie und der Spur als poetische Grundlage erprobt. Es kann so eine neue Lesart der Architekturen mittels der identifizierten Definitionen des Fragmentarischen entstehen. Die Heterogenität der untersuchten Positionen und Strategien im Umgang mit dem Begriff des Fragmentarischen soll dabei die Tragweite der begrifflichen Definition ermitteln.

Die der Theorie zugrunde liegende These lautet in vorliegender Arbeit: Das Fragmentarische ist eine Qualität der architektonischen Ordnung. Auf ihrer Grundlage wurde zwischen dem Fragmentarischen als architektonische Qualität und dem Bild der gebrochenen Form – dem Insignum des Fragments – unterschieden. Auf diese Weise entfaltete sich ein für die Architekturtheorie operativer[2] Fragmentbegriff, der von einem gestaltorientierten in einen prozessorientierten Begriff transformiert wird.  Ziel hierbei war es, die Umrisse eines zusammenhängenden Gedankenkomplexes im Sinne der condition fragmentaire kenntlich zu machen.

So kann die Untersuchung als eine im Schlegel’schen Sinne erarbeitete theoretische Konstellation des Fragmentarischen in der Architektur verstanden werden. Wenn das Fragmentarische für die Architektur vor diesem Hintergrund als Qualität der räumlichen Ordnung interpretiert wird, so lassen sich damit ein Instrument für die Raumgenerierung und ein Instrument poetischer Raumreflexion gewinnen. Anders ausgedrückt: Das Fragmentarische bietet dem architektonischen Werk eine theoretische Fundierung, während das Werk die Theorie weiterbildet. Es handelt sich also um eine Theorie des Fragmentarischen im Werk und mit dem Werk.

[1]       Sandra Kerschbaumer; Stefan Matuschek: Romantik als Modell, in: Daniel Fulda; Sandra Kerschbaumer; Stefan Matuschek (Hrsg.): Aufklärung und Romantik. Epochenschnittstellen, Paderborn 2015, S. 141–156, hier S. 155. Kerschbaumer und Matuschek leiten das DFG-Graduiertenkolleg an der Friedrich-Schiller-Universität Jena „Modell Romantik. Variation – Reichweite – Aktualität“. Die Verfasserin dieser Arbeit ist seit 2018 assoziiertes Mitglied des Kollegs Modell Romantik.

[2]       Mit Bezug auf Niklas Luhmanns Systemtheorie in: Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, in: Hans-Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a. M. 1986, S. 620–672.